Was heute noch wie technischer Fortschritt klingt, wird in wenigen Jahren ganze Berufsbilder im Kundenservice neu definieren. Die Unternehmensberatung Roland Berger hat mehr als 550 Führungskräfte aus verschiedenen Branchen befragt – mit einem Ergebnis, das klarer kaum sein könnte: Der Einsatz von Künstlicher Intelligenz (KI) in Service-Abteilungen ist längst Realität, doch das eigentliche Tempo der Veränderung steht erst noch bevor.
Schon jetzt nutzen 95 Prozent der befragten Unternehmen KI in irgendeiner Form – meist in Teilprozessen, oft unsichtbar für den Kunden. Chatbots, automatische Spracherkennung oder einfache Routing-Systeme sind längst Standard. Doch entscheidend ist, was sich hinter den Zahlen verbirgt: Nicht nur Arbeitsprozesse verändern sich, sondern auch die Anforderungen an das Personal. Denn wenn KI repetitive Aufgaben übernimmt, geraten einfachere Tätigkeiten unter Druck – während gleichzeitig ein Bedarf an hochqualifizierten Mitarbeitenden entsteht, die in der Lage sind, intelligente Systeme zu verstehen, zu steuern und weiterzuentwickeln. Das betrifft nicht nur einzelne Stellenprofile. Allein in Deutschland geht es um eine signifikante Zahl an Arbeitsplätzen im Bereich Callcenter und Kundenbetreuung, deren Inhalte, Anforderungen – und in Teilen sogar ihre Existenz – neu verhandelt werden müssen.
Besonders auffällig ist der internationale Vergleich. Während asiatische Unternehmen KI bereits für weitreichende Funktionen wie Stimmungsanalysen oder personalisierte Verkaufsgespräche einsetzen, verläuft die Entwicklung in Europa deutlich vorsichtiger. Datenschutz, gesetzliche Hürden und häufig auch interne Trägheit bremsen die Dynamik. Roland Berger spricht von einem strukturellen Rückstand – und meint damit nicht nur die Technik, sondern auch Denkweise und Strategie. Simone Schatto, Director bei Roland Berger, bringt es auf den Punkt: Es reicht eben nicht, ein paar Chatbots zu installieren. Wer KI ernsthaft nutzen will, muss ganze Organisationseinheiten umbauen – vom Datenmanagement bis zur Personalentwicklung. Ohne klares Konzept bleibt es bei digitalen Insellösungen, deren Wirkung schnell verpufft.
Interessant ist auch die Einordnung der aktuellen Reifegrade. Roland Berger unterscheidet drei Entwicklungsstufen: von vereinzelter Automatisierung über eine integrierte Customer Experience bis hin zum „KI-Champion“, bei dem der Service rund um die Uhr nahezu vollständig automatisiert läuft. In diese höchste Kategorie fällt bislang kaum ein europäisches Unternehmen. Die meisten Befragten verorten sich selbst in der Anfangsphase – mit starkem Nachholbedarf. Dass gerade der Einzelhandel vergleichsweise weit ist, verwundert nicht: Kundenbindung ist hier seit jeher ein zentrales Thema. In anderen Branchen – etwa der Konsumgüterindustrie – fehlt es dagegen oft noch an konkreten Anwendungsfällen oder der nötigen Investitionsbereitschaft.
Die Studie ist mehr als eine Momentaufnahme. Sie ist ein Weckruf. Denn während sich internationale Wettbewerber bereits neu aufstellen, zögern viele Unternehmen in Europa noch. Dabei geht es längst nicht mehr um die Frage, ob KI kommt – sondern wie Unternehmen darauf reagieren. Die Empfehlung der Studienautoren ist eindeutig: Wer im Kundenservice zukunftsfähig bleiben will, braucht eine umfassende Strategie. Und die beginnt nicht bei der Technologie, sondern bei der Organisation. Es geht um mehr als Tools – es geht um Haltung. Unternehmen, die den Wandel nicht nur technologisch, sondern strukturell mittragen, werden die nächsten Jahre entscheidend prägen. Und das nicht nur im Kundenservice. Link zur kompletten Studie: content.rolandberger.com